Maria Maier
Maria Maier

Paulines Auftritt

Auszug. Erschienen in Blauer Salon, Anthologie des neuen Literarischen Schreibens 2018

 

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Pauline krümmt sich in ihrem Sitz zusammen. Sofort ist der fleckige Betonklotz wieder da. Diesmal steht er fast greifbar hinter ihrer Stirn. Drei gelbe Federn, die fremd und starr daran kleben. Die kleinen wütenden Hände ihres Bruders, der das Gras aus dem Boden reißt und unter der Erde die Entenköpfe sucht. Wie sie sich den Rotz unter der Nase wegwischen, mit einem Stöckchen geheime Zeichen in den Boden kratzen und sich voll wilder Traurigkeit zuflüstern: Wir gehen hier weg. Für immer.

Das Stechen im Brustkorb beginnt. Es rollt dumpf und schwer in die Arme und in ihren Bauch. Pauline presst ihre Fäuste aneinander und drückt sie mit solcher Kraft gegen das Brustbein, dass der Schmerz langsam nachlässt. Sie hofft, dass Natascha den dummen Gangster abserviert. Tatsächlich antwortet das Mädchen ihm mit ihrer hellen Stimme: Abhauen? Wohin denn? Ich kann hier nicht weg. Der Junge sieht sie betroffen an, als schämte er sich für ihre Fantasielosigkeit. Darum geht’s doch nicht, sagt er kleinlaut. Der Moment, in dem etwas hätte geschehen können, ist vorbei. Natascha hat das Flämmchen ausgetreten. Ich hab hier noch zu tun, sagt sie mit stumpfer Entschiedenheit und geht zur Mitte der Bühne. Dann dreht sie sich dem Publikum zu und sieht ins Leere als hätte jemand den Aus-Knopf gedrückt.

Pauline kommt es unendlich lange vor, wie das Mädchen da so allein steht und nichts tut, als ihr kleines Gesicht von den Scheinwerfern anstrahlen zu lassen. Sie fühlt sich plötzlich, als wäre sie hier zu einer besonders perfiden Geduldsprobe geladen. Wie kann sich jemand ein Stück ausdenken in dem, wenn man ehrlich ist, nichts passiert?

Na los Leute, raus hier! Natascha hat zu tun! ruft Vasja in die Stille. Er scheint sich erstaunlich schnell mit seiner Zurückweisung abgefunden zu haben und hat schon wieder den gewohnten Befehlston in der Stimme. Seine Kollegen blicken ihn an, als wären sie im Schlaf geschlagen worden, folgen dann aber seiner Anweisung und lassen sich von der Bühne lotsen. Mit schmalen Lippen mustert er die schäbigen, unvorteilhaft zusammengestellten Kleider seiner Untergebenen, die sich seitlich der Bretterwand an ihm vorbei schieben und schließlich im Dunkel verschwinden.

Nur der Dicke und der Baron sind ungerührt in ihrem Staubhaufen sitzen geblieben. Vasja wartet kurz ab, ob die beiden tatsächlich seinen Befehl missachten werden. Er scheint es gewohnt zu sein, dass die Leute ihm unmittelbar gehorchen. Weil aber keiner der beiden auch nur die geringste Regung erkennen lässt, zieht er mit einem Ratsch den Reißverschluss seiner Jacke zu und verlässt auf demselben Weg wie die anderen die Bühne.

Erst jetzt lösen sich der Baron und sein Gefährte aus ihrer aufgesetzten Starre. Der Baron stupft den Dicken in die Seite und deutet mit einem abgründigen Lächeln auf Natascha, die noch immer in der Bühnenmitte steht und den Kopf ins Licht hält. So sieht sie noch kindlicher aus. Ihr kleiner Mund erinnert Pauline an ein Mohnblümchen. Die beiden Jungen flüstern lange miteinander, bis der Baron mit einem Ruck aufsteht und dem Dicken die Hand hinstreckt, damit dieser sich ebenfalls erhebt. Beide streichen ihre Jackenärmel glatt. Der Baron rückt seinen Hemdkragen zurecht und wischt sich die feucht gezwirbelten Haare aus der Stirn. Dann setzen sie sich gleichzeitig in Bewegung, als hätte der Dompteur das Gatter geöffnet. Ihre Blicke sind hart auf den kleinen Körper in der Bühnenmitte geheftet, den sie in immer engeren Bahnen umkreisen.

Pauline denkt an die Löwen im Zirkus und wie unsympathisch sie ihr schon immer waren. Wieso hat ein Tier so weiches Fell, wenn man es nicht streicheln darf. Der Baron bewegt sich wirklich so geschmeidig wie eine Raubkatze. Sein Lächeln ist falsch und gierig. Der Dicke ist zwar auch auf seine Art wendig, aber seine Schritte haben zugleich etwas bäuerlich Marschierendes. Als würden sich seine Füße von ihm nicht ganz steuern lassen. Natascha folgt den Bewegungen der beiden Männer mit einer leichten Drehung des Kopfes, erst neugierig, dann mit wachsender Unruhe. Ihre Blicke huschen zwischen dem Baron und dem Dicken hin und her und versuchen ihre Absicht zu erraten.

Pauline kämpft gegen den Drang laut aufzustoßen. Geh weg, denkt sie. Jetzt könntest du doch noch weggehen. Aber insgeheim weiß sie schon, dass das Mädchen dort stehen bleiben wird und dass alles, was weiter folgt, vom Stück bereits vorgegeben ist. Hat Valentin diese Szene im Kopf gehabt, als er an der Bushaltestelle auf sie zu kam? Als er sie gefragt hat, ob sie Spektakel mag. Womöglich ist er doch von gewissen Impulsen geleitet und sie sollte ihm nicht erlauben, sie später nach Hause zu begleiten. Warum tut Natascha denn nichts, um sich aus ihrer idiotischen Lage zu befreien? Die Menschen nehmen so viel hin, denkt Pauline. So wie die arme Susanne. Wird rausgeworfen und macht keinen Mucks. Dass die auch nicht eine Sekunde um ihr Recht gekämpft hat.

Die Augen des Mädchens stehen jetzt weit offen, der Mohnblumenmund ist zu einem farblosen Punkt geschrumpft. Der Baron und der Dicke reiben sich auf ekelhafte Weise die Hände. Soll ich was singen? fragt Natascha plötzlich. Die beiden bleiben unvermittelt stehen. Das hätte sie nicht sagen dürfen. Jetzt hat sie die vollkommene Hoffnungslosigkeit ihrer Lage eingestanden. Mit diesen Worten sagt sie: Es kann keine Rettung geben.

Was willst du denn jetzt singen? fragt der Baron und studiert kurzzeitig die bunten Striche auf der Bretterwand. Natascha sieht zu Boden und kratzt mit dem Fuß an einem unsichtbaren Fleck herum. Somewhere Over The Rainbow, schlägt der Fette vor und stellt sich neben sie. Er schielt zum Baron herüber, ob der sich über seine Idee freut. Ja. Somewhere Over The Rainbow, wiederholt der Baron sofort mit ausgestrecktem Zeigefinger. Offenbar handelt es sich um sein Lieblingslied. Er positioniert sich auf der anderen Seite neben Natascha: Fang an!

Das Mädchen wirft den beiden, die jetzt wie zwei Bodyguards neben ihr stehen, einen prüfenden Blick zu. Gut. Somewhere Over The Rainbow. Das kann ich. Sie richtet sich auf und reguliert ihren Atem. Es wirkt jetzt sehr professionell, wie sie die Augen schließt und innerlich den Anfangston erzeugt. Mit einer Stimme, die Pauline überraschend dunkel und golden erscheint, beginnt Natascha zu singen: There’s a place for us… Somewhere a place for us… Sie stockt. Der Baron und der Dicke sehen sich fragend an. Hey. Das ist aus West Side Story. Das mein ich nicht, sagt der Baron empört. Natascha schüttelt erschrocken den Kopf.

Jetzt hau ab Natascha, denkt Pauline, aber das Mädchen streicht sich nur mit der Hand über das Gesicht, als wollte sie den Fehler von ihren Lippen wischen. Okay, ich hab’s wieder. Der Baron nickt ihr zu. Sie setzt erneut an: Someday I’ll wish upon a star… and wake up where the clouds are far… behind me… Where troubles melt like lemon drops… away above the chimney tops… that’s where you find me… Somewhere over the rainbow… blue birds fly… Birds fly… over the rainbow… Why than oh why can’t I.

Pauline beugt sich nach vorn und presst erneut die Fäuste gegen ihr Brustbein. Sie muss sich beherrschen, vor Schmerz nicht aufzuächzen. Glücklicherweise ist das Lied schon zu Ende. Sie lässt den angehaltenen Atem mit einem langen tonlosen Pusten entweichen. Alle Zuschauer hocken ehrfürchtig in der Stille und blicken zur Bühne herab, als wäre ihnen dort soeben die Mutter Gottes erschienen. An Nataschas Seite wischen sich der Baron und der Dicke betreten die Augen.

Plötzlich klatscht es unmittelbar neben Pauline wild los. Ihr Sitznachbar schlägt erregt seine Hände aufeinander und reißt damit die anderen Zuschauer aus ihrer Andacht in einen völlig unkontrollierten Applaus hinein. Alle klatschen grob und laut, wie um sich selbst durch die Knallgeräusche aus ihrer Sehnsuchtsgrube heraus zu jagen. Sie selbst applaudiert zwar jetzt auch, aber nur, weil das Mädchen es sich verdient hat. Wer es schafft, durch das Singen eines alten Schlagers solche Wirkung zu erzielen, dem gebührt echter Respekt. Es ist nicht, weil sie die Stille nicht aushält, wie das offenbar bei ihrem Nebenmann der Fall ist. Er hat auch schon wieder viel zu breit die Knie auseinander gespreizt. Warum begreift er nicht, dass sein Bereich dort endet, wo ihr Sitzplatz anfängt. Außerdem starrt er während des Klatschens abwechselnd zur Bühne und in ihr Gesicht, so als würde sein begeisterter Applaus beiden gleichermaßen gelten.

Natascha lächelt bescheiden ins Publikum. Der Baron und der Dicke warten geduldig, bis das letzte Geräusch verklungen ist. Dann tauschen sie einen Blick aus, der besagt, dass die Gnadenfrist jetzt endgültig abgelaufen ist. Sie drehen sich dem Mädchen zu, packen es an den Armen und reißen es in Richtung der Bretterwand. Der Dicke stößt Natascha zwischen die Schulterblätter in den Rücken, so dass sie einige Schritte vorwärts taumelt und beinahe hinfällt. Der Baron blickt sich noch einmal um und geht dann schnell hinterher. Zu zweit greifen sie das Mädchen an den Schultern, halten ihr den Mund zu und drängen sie zum Seitendurchgang. Als würde Natascha jetzt erst, als es längst zu spät ist, begreifen, worauf die beiden es die ganze Zeit über abgesehen haben, schreit sie verzweifelt los und beißt in Finger und Arme, die sich ihr vor den Mund schieben. Der Baron packt sie am Hals und drückt sie an die Bretterwand, die durch den Stoß ins Wanken gerät. Als sie bleich und still wird, legt er die Hand auf ihr Gesicht und schleift sie zusammen mit dem Dicken hinter die Wand. Einen kurzen Moment ist es vollkommen still, dann geht ein Raunen durch den Zuschauerraum. Das ansteigende Murmeln wird durch ein plötzlich aus unsichtbaren Lautsprechern erschallendes Getöse, eine Mischung aus Musik und Kriegslärm, schlagartig übertönt.
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